02.11.2023
Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen: Ist verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 Strafprozessordnung (StPO) gekippt. Sie lasse sich weder mit dem Mehrfachverfolgungs- noch mit dem Rückwirkungsverbot vereinbaren und sei daher nichtig.
In dem Verfahren ging es um die Verfassungsbeschwerde eines Mannes, dem vorgeworfen wird, 1981 eine Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das daraufhin gegen ihn geführte Strafverfahren endete 1983 mit einem Freispruch. Im Februar 2022 wurde es wegen neuer Beweismittel aufgrund des am 30.12.2021 in Kraft getretenen § 362 Nr. 5 StPO wiederaufgenommen. Nach dieser Vorschrift darf ein Strafverfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen wiederaufgenommen werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe dafür bestehen, dass der Betroffene nunmehr wegen Mordes oder bestimmter Völkerstraftaten verurteilt wird.
Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer sei verfassungswidrig, stellt das BVerfG nun klar. Ihre Rechtsgrundlage (§ 362 Nr. 5 StPO) verstoße gegen Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz (GG). Das darin statuierte Mehrfachverfolgungsverbot verbiete dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Es treffe eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Zudem verletze die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig waren, das sich aus Art. 103 Absatz 3 GG in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 GG ergebende Rückwirkungsverbot.
Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, zur Frage der Abwägungsfestigkeit des grundrechtsgleichen Rechts des Artikel 103 Absatz 3 GG mit 6 zu 2 Stimmen gefallen. Eine Richterin und ein Richter des BVerfG haben hierzu ein Sondervotum erstellt.
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 31.10.2023, 2 BvR 900/22