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02.02.2023

Überraschungsentscheidung: Ist verfahrensfehlerhaft

Eine Überraschungsentscheidung kann vorliegen, wenn das Finanzgericht (FG) die Klageabweisung auf einen Gesichtspunkt stützt, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben, und wenn dies zudem auf rechtlich fehlerhafter und tatsächlich zweifelhafter Grundlage geschieht. Dies hat der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden und auf eine Nichtzulassungsbeschwerde ein Urteil des FG München aufgehoben sowie die Sache zurückverwiesen.

Das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel, da das FG ein Überraschungsurteil erlassen und damit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt habe. Eine Überraschungsentscheidung liege vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder nicht bekannten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste.

Dies kann laut BFH insbesondere der Fall sein, wenn ein entscheidungserheblicher Umstand vom FG erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht wird. Zwar müsse ein – zumal durch einen Rechtsanwalt und Steuerberater sachkundig vertretener – Verfahrensbeteiligter, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen. Er müsse aber nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen wird, den weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt haben. Das gelte umso mehr, wenn dies zudem mit einer rechtlich fehlerhaften Begründung geschieht, so der BFH.

So liege der Streitfall. Zwischen den Beteiligten sei bis zur Entscheidung des FG nur streitig gewesen, ob der Kläger zu 1. ein Veräußerungsgeschäft nach § 17 Absatz 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) realisieren konnte, obwohl zuvor über das Vermögen der AG bereits das Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Das beklagte Finanzamt hatte dies verneint; der Kläger hielt dies für rechtlich nicht ausgeschlossen. Streitig war zudem, ob der Kläger die objektive und subjektive Wertlosigkeit der Aktien im Zeitpunkt deren Veräußerung an die Klägerin zu 2. zum Erinnerungswert von einem Euro nachgewiesen hatte.

Weist das FG bei dieser Sachlage die Klage ohne mündliche Verhandlung mit der (neuen) Begründung ab, die Anteilsveräußerung könne als Vertrag zwischen nahen Angehörigen der Besteuerung nicht zugrunde gelegt werden, weil die Klägerin nicht (wie zwischen Dritten üblich) im Aktienregister (§ 67 des Aktiengesetzes) eingetragen worden sei, müsse der Kläger mit dieser Wendung jedenfalls dann nicht rechnen, wenn sich die Begründung auch noch als rechtlich fehlerhaft und tatsächlich zweifelhaft erweist. Denn Veräußerung im Sinne des § 17 Absatz 1 Satz 1 EStG sei nach der ständigen Rechtsprechung des BFH die Übertragung von Anteilen gegen Entgelt; zivilrechtlich geschehe dies durch (Einigung und) Abtretung.

Entgegen der Ansicht des FG scheitere die zivilrechtliche Übertragung der Anteile nicht daran, dass die Klägerin als Erwerberin (angeblich) im Aktienregister nicht eingetragen worden ist. Die Eintragung im Aktienregister sei nicht konstitutiv für die Wirksamkeit der Abtretung; sie diene allein dem Nachweis der Gesellschafterstellung gegenüber der Gesellschaft. Auf die fehlende Eintragung im Aktienregister könne die steuerliche Unbeachtlichkeit einer Aktienübertragung deshalb nicht gestützt werden, auch nicht im Fall einer Übertragung zwischen nahen Angehörigen. Vor diesem Hintergrund habe der Kläger auch nicht damit rechnen müssen, dass das FG der (fehlenden) Eintragung im Aktienregister konstitutive Bedeutung für die Wirksamkeit der Veräußerung beimessen könnte.

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 12.01.2023, IX B 29/22