Zurück

10.08.2022

Sexualassistenz: Kosten nach schweren Arbeitsunfallverletzungen zu übernehmen

Das Sozialgericht (SG) Hannover hat entschieden, dass die Berufsgenossenschaft die Kosten eines Klägers für seine Sexualassistenz im Rahmen eines persönlichen Budgets zu übernehmen hat.

Der 1983 geborene Kläger erlitt am 27.12.2003 auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildungsstätte mit seinem Pkw einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sein Fahrzeug in die Fahrerseite getroffen und gegen ein weiteres Fahrzeug geschleudert wurde. Dabei zog sich der Kläger unter anderem eine Subarachnoidalblutung und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit nachfolgender Ataxie und Sprachstörungen zu. Nach stationärer Erstversorgung erfolgte eine Frührehabilitation mit noch vegetativer Dysregulation, apallischem Syndrom (Wachkoma) und ausgeprägter spastischer Tetraparese (Lähmung aller Extremitäten). Eine weitere stationäre Behandlung mit noch schwerem hirnorganischem Psychosyndrom schloss sich an. Am 15.04.2005 wurde der Kläger nach Hause entlassen mit weiterhin bestehenden hochgradigen Funktionsbeeinträchtigungen und der Hilfebedürftigkeit in allen Alltagsverrichtungen wie An- und Ausziehen, Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Der Unfall wurde als Arbeitsunfall anerkannt. Seit dem 16.09.2006 bezieht der Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 Prozent. Das zuständige Versorgungsamt hat ferner einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen "aG", "G", "H" und "B" festgestellt.

Auf Antrag des Klägers schloss die Berufsgenossenschaft mit ihm einen entsprechenden Budgetvertrag und bewilligte ihm als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ein persönliches Budget für Sexualbegleitung durch zertifizierte Dienstleisterinnen für den Zeitraum März 2016 bis insgesamt Februar 2018. Den Folgeantrag des Klägers auf Gewährung eines weiteren persönlichen Budgets ab März 2018 lehnte die Berufsgenossenschaft ab. Leistungen zur Befriedigung des Sexualtriebs fielen nicht unter den Bereich der Heilbehandlung oder Pflege, weil es sich nicht um die Behandlung einer Krankheit beziehungsweise nicht um Hilfe bei gewöhnlich regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens eines Menschen handele. Es handele sich auch nicht um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, weil die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch den Einsatz Prostituierter nicht die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ermögliche oder erleichtere.

Das SG Hannover hat der Klage stattgegeben. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe nach § 39 Sozialgesetzbuch VII beschränkten sich nicht darauf, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens bereitzustellen, sondern sie sollten auch das gestörte seelische Befinden des Behinderten verbessern und sein Selbstbewusstsein stärken. Sexuelle Bedürfnisse zählten zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und könnten daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen, nämlich für die persönliche Entwicklung und das seelische Befinden. Damit sei eine selbstbestimmte Sexualität Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung.

Sozialgericht Hannover, Urteil vom 11.07.2022, S 58 U 134/18, nicht rechtskräftig