04.08.2023
Berufsmusiker: Keine Entschädigung für coronabedingte Einnahmeausfälle im "ersten Lockdown"
Der Staat haftet nicht für Einnahmeausfälle eines Berufsmusikers, die durch befristet und abgestuft angeordnete Veranstaltungsverbote und -beschränkungen zur Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus im Zeitraum von März bis Juli 2020 ("erster Lockdown") verursacht wurden. Dies hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden.
Der in Bayern ansässige Kläger betreibt ein Musik- und Filmproduktionsunternehmen und ist Leiter einer Musikgruppe. Seine Aufträge bestehen zu mehr als 90 Prozent aus Live-Auftritten. Er begehrt vom beklagten Land Baden-Württemberg Entschädigung für Einnahmeausfälle, die ihm in dem Zeitraum von März bis Juli 2020 entstanden seien, weil er und seine Musikgruppe aufgrund staatlicher Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung nicht auf Veranstaltungen habe auftreten können.
Das beklagte Land hatte ab 17.03.2020 auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) sukzessive mehrere Verordnungen zur Bekämpfung des Coronavirus erlassen. Das zunächst angeordnete generelle Verbot von Versammlungen und Veranstaltungen wurde in der Folgezeit gelockert. Ab dem 01.06.2020 waren unter Einhaltung bestimmter Schutzvorkehrungen und Hygienemaßnahmen wieder Kulturveranstaltungen jeglicher Art unter 100 Teilnehmern gestattet. Ab dem 01.07.2020 waren bei Veranstaltungen mit festen Sitzplätzen sowie einem vorab festgelegten Programm bis zu 250 Teilnehmer zulässig.
Die auf Zahlung von rund 8.330 Euro nebst Zinsen gerichtete Klage blieb in erster und zweiter Instanz erfolglos. Im Revisionsverfahren hat der Kläger in erster Linie einen Entschädigungsanspruch nach dem richterrechtlichen Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs weiterverfolgt. Auch hiermit hatte er keinen Erfolg.
Ein Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs setze voraus, dass rechtswidrig in eine durch Artikel 14 Absatz 1 Grundgesetz (GG) geschützte Rechtsposition von hoher Hand unmittelbar eingegriffen und dem Berechtigten dadurch ein besonderes, anderen nicht zugemutetes Opfer für die Allgemeinheit auferlegt wird, so der BGH. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Die in den Corona-Verordnungen des beklagten Landes angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen seien nicht rechtswidrig gewesen. Sie seien insbesondere mit Artikel 12 Absatz 1 GG und Artikel 14 Absatz 1 GG vereinbar.
Durch die Veranstaltungsverbote und -beschränkungen sei zwar in den Gewerbebetrieb des Klägers als Eigentum im Sinne des Artikel 14 GG eingegriffen worden, da es dem Kläger vorübergehend verwehrt beziehungsweise nur in eingeschränktem Maße möglich war, die vorhandenen Betriebsmittel bestimmungsgemäß zu nutzen und bereits vertraglich vereinbarte Auftrittsmöglichkeiten wahrzunehmen.
Die angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen waren laut BGH jedoch verhältnismäßig. Sie dienten einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck, weil sie darauf abzielten, durch die Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen und das exponentielle Wachstum der Infektionen zu durchbrechen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden und die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Das Robert Koch-Institut habe in seinen täglichen Lageberichten gerade auch die "soziale Distanzierung" als geeignete Gegenmaßnahme zur Verbreitung des Virus und zur Überlastung des Gesundheitswesens bezeichnet.
Die befristet und abgestuft angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen seien auch erforderlich gewesen, weil gleich geeignete, mildere Mittel nicht zur Verfügung standen. Unter Berücksichtigung des ihm zustehenden weiten Beurteilungsspielraums habe das beklagte Land Mitte März 2020 davon ausgehen dürfen, dass es auf die möglichst rasche und umfassende Unterbindung sozialer Kontakte ankam, um der Gefahr einer unkontrollierten Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und den damit verbundenen Bedrohungen für das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung sowie die Funktionstüchtigkeit des Gesundheitssystems wirksam zu begegnen. Mit dem vorrangigen Ziel schnellstmöglicher und umfassender Kontaktbeschränkungen seien differenzierende Übergangs- und Ausnahmeregelungen nicht zu vereinbaren gewesen. Verhaltensregeln für Versammlungen und Veranstaltungen stellten selbst bei vollumfänglicher Beachtung kein gleich wirksames Mittel dar. Hinzu trete das Risiko bewusst oder unbewusst fehlerhafter Anwendung der Regeln (gerade bei Veranstaltungen wie Hochzeiten, Firmenfeiern und Konzerten, auf denen die Musikgruppe des Klägers auftritt).
Die angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen seien auch verhältnismäßig im engeren Sinne gewesen, so der BGH weiter. Die öffentliche Hand habe für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen der Grundrechtsbeeinträchtigung des Klägers und dem mit dem Veranstaltungsverbot verfolgten Schutz besonders bedeutsamer Gemeinwohlbelange gefunden. Die angeordneten Maßnahmen, also auch das Veranstaltungsverbot, seien von Anfang an zeitlich befristet gewesen. Der Verordnungsgeber habe von vornherein eine "Ausstiegs-Strategie" im Blick und verfolgte ein stufenweises Öffnungskonzept gehabt.
Eine weitere Abmilderung des Eingriffs in Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 GG hätten großzügige staatliche Hilfsprogramme bewirkt. Darunter sei die vom Bundeskabinett am 23.03.2020 beschlossene "Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbstständige" gefallen, die ab 25.03.2020 zur Verfügung stand, in deren Rahmen durch die Corona-Pandemie in existenzbedrohende wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Unternehmen mit bis zu fünf Beschäftigten eine finanzielle Unterstützung von bis zu 9.000 Euro erhalten konnten und die in Baden-Württemberg zu mehr als 240.000 Bewilligungen mit einem Gesamtvolumen von über zwei Milliarden Euro führte. Hinzu seien finanzielle Leistungen des Freistaates Bayern gekommen, die dieser dort ansässigen Unternehmen, Soloselbstständigen und Angehörigen freier Berufe zwischen 5.000 und 50.000 Euro gewährte, was auch dem Kläger, dessen Firmensitz in Bayern liegt, zur Verfügung gestanden habe.
Soweit durch die angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen zugleich in das Grundrecht des Klägers aus Artikel 12 Absatz 1 GG eingegriffen wurde, gelte nichts Anderes. Daran ändere sich auch nichts, wenn man die durch Artikel 5 Absatz 3 GG gewährleistete Kunstfreiheit zusätzlich in den Blick nimmt. Die Kunstfreiheit sei in Fällen, in denen es um den Ausgleich von Erwerbsschäden auf Grund von infektionsschutzrechtlichen Veranstaltungsverboten und -beschränkungen geht, nicht in ihrer immateriellen, sondern in ihrer vermögensrechtlichen Dimension betroffen, sodass Artikel 12 Absatz 1 GG maßgeblich sei.
Der Gesetzgeber des Infektionsschutzgesetzes sei verfassungsrechtlich nicht verpflichtet gewesen für Belastungen, wie sie für den Kläger mit den in den Veranstaltungsverboten und -beschränkungen liegenden Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG einhergingen, Ausgleichsansprüche zu regeln. Der Zeitraum, in dem sich das von dem beklagten Land angeordnete Veranstaltungsverbot für den Kläger faktisch wie eine Betriebsuntersagung auswirkte, habe lediglich zweieinhalb Monate betragen. Danach sei es ihm in eingeschränktem Umfang wieder möglich gewesen, die von ihm angebotenen Dienstleistungen zu erbringen. Ein solcher Zeitraum war laut BGH unter Berücksichtigung des den Betriebsinhaber grundsätzlich treffenden Unternehmerrisikos für den Gewerbebetrieb des Klägers nicht unzumutbar.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 03.08.2023, III ZR 54/22