03.08.2023
Reiserücktrittsversicherung: Anspruch auf Ersatz der Stornokosten bei geplatzter Urlaubsreise
Im Streit um Leistungen aus einem Reiserücktrittsversicherungsvertrag hat das Amtsgericht (AG) München eine Versicherung zur Zahlung der für die Stornierung einer Pauschalreise angefallenen Kosten in Höhe von 1.128 Euro verurteilt. Es sah die Versicherung an die Auskunft der eigens angebotenen Medizinischen Stornoberatung gebunden.
Die Freundin der Klägerin hatte für sich und die Klägerin eine Pauschalreise nach Ibiza für September 2021 zu einem Gesamtpreis von 1.410 Euro gebucht und bei der Beklagten für beide eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen.
Die Versicherungsbedingungen (AVB) der Beklagten enthielten folgende Bestimmungen: "Ihr Service-Plus in der Stornokosten-Versicherung:
„Ist Ihre Reise aufgrund von Krankheit, Unfall oder aus anderen Gründen gefährdet? Sind Sie sich unsicher, ob sie ihre Reise antreten können oder doch stornieren müssen? Unsere telefonische Stornoberatung gibt Ihnen hier die richtige Empfehlung. (…) 2.2 Wir unterstützen Sie bei der Entscheidung, ob und wann sie ihre Reise stornieren sollten. (…) 14.3 Haben Sie die medizinische Stornoberatung eingeschaltet und A) empfiehlt diese, die Reise zu stornieren? Dann sind Sie verpflichtet, ihre Reise unverzüglich zu stornieren. …"
Bei der seit 2017 an Morbus Basedow leidenden Klägerin wurde kurz vor Reisebeginn ein Knoten im Bereich der Schilddrüse festgestellt und als frühester Termin für die weitere medizinische Abklärung der Tag vor der geplanten Abreise angeboten. Die Ärztin der von der Klägerin daraufhin in Anspruch genommenen Medizinischen Stornoberatung der Beklagten riet telefonisch zur Stornierung der Reise, was beide umgehend taten.
Die Beklagte verweigerte den von der Klägerin geltend gemachten Ersatz der Stornokosten und vertrat die Auffassung, die von ihr angebotene Medizinische Stornoberatung berate nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung. Über die grundsätzliche Frage, ob überhaupt ein versichertes Ereignis vorliege, werde jedoch erst im Rahmen der Schadenbearbeitung befunden und entschieden.
Das Gericht gab der Klage vollumfänglich statt. Offenbleiben könne, ob eine unerwartete schwere Erkrankung im Sinne der AVB bei der Klägerin zum Stornierungszeitpunkt am 15.09.2021 vorlag, welche zu einer so starken gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin führte, dass diese die Reise nicht planmäßig antreten konnte.
Denn jedenfalls habe die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Stornierungskosten gemäß der zwischen den Parteien am 02.07.2021 geschlossenen Reiserücktrittsversicherung in Verbindung mit § 242 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Beklagte müsse sich nach dem Grundsatz des "venire contra factum proprium" an dem festhalten lassen, was die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung der Klägerin in dem Telefongespräch geraten hat.
Die Beklagte habe mit ihrer Beratung gegenüber der Klägerin einen Vertrauenstatbestand geschaffen, dass die Stornierung der Reise den vertraglichen Voraussetzungen der Reiserücktrittsversicherung entspricht.
In Ziffer 2.2 der AVB werde die Leistung der Medizinischen Stornoberatung dahingehend konkretisiert, dass eine Unterstützung bei der Entscheidung angeboten wird, ob und wann die Vertragspartei ihre versicherte Reise stornieren soll. Nach der offenen Formulierung dieser Vertragsbedingung sei mithin entgegen der Ansicht der Beklagten davon auszugehen, dass die Medizinische Stornoberatung nicht nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung berät, sondern auch darüber, ob überhaupt ein Stornierungsgrund im Sinne einer unerwarteten schweren Erkrankung gegeben ist. Dies werde auch dadurch gestützt, dass es sich explizit um eine medizinische und nicht um eine allgemeine Stornoberatung handelt und Rücksprache mit Ärzten gehalten werden kann. Die Beklagte weise schließlich selbst im Versicherungsschein den Versicherungsnehmer darauf hin, dass die Medizinische Stornoberatung die "richtige" Empfehlung gibt und empfiehlt die Durchführung bei Unsicherheiten über das Eintreten des Versicherungsfalls.
Wenn die Medizinische Stornoberatung der Beklagten – wie von der Beklagtenseite vorgetragen – keine Entscheidung darüber treffen kann, ob tatsächlich ein versichertes Ereignis vorliegt, müsse dies gegenüber dem Versicherungsnehmer in der Beratung auch offengelegt werden und auf das Risiko einer abweichenden späteren Entscheidung der Beklagten über den Eintritt des Versicherungsfalls hingewiesen werden.
Es sei allerdings "höchst fraglich", so das AG, warum die Beklagte den Versicherungsnehmern ihre Medizinische Stornoberatung überhaupt als Entscheidungsgrundlage empfiehlt, wenn sie selbst meint, sich an die Empfehlungen ihrer eigenen Beratung nicht halten zu müssen. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten stehe in eklatantem Widerspruch zu Ziff. 2 und 14 ihrer eigenen AVB.
Die Auskunft der Ärztin der Medizinischen Stornoberatung müsse sich die Beklagte gemäß § 278 Satz 1 BGB auch zurechnen lassen. Denn sie habe sich dieser insoweit als Erfüllungsgehilfin bedient. Die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung zur unverzüglichen Stornierung der Reise sei mithin unvereinbar mit der späteren Verweigerung der Kostenübernahme durch die Beklagte mit der Begründung, es habe keine schwere unerwartete Erkrankung zum Stornierungszeitpunkt vorgelegen.
Das Vertrauen der Klägerin in die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung der Beklagten sei auch schutzwürdig. Die Klägerin konnte und durfte laut Gericht darauf vertrauen, dass die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung sie richtig sowohl im Hinblick auf den Zeitpunkt der Stornierung als auch im Hinblick darauf, ob ein Stornierungsgrund vorliegt, berät.
Amtsgericht München, Urteil vom 16.02.2023, 122 C 7243/22, rechtskräftig