17.07.2023
Massenentlassungen: Pflicht zu Behördeninformation dient nicht Individualschutz der Arbeitnehmer
Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Behörden in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen darüber mitzuteilen, hat nicht den Zweck, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Die Mitteilung erfolgt nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken und ermöglicht es der zuständigen Behörde lediglich, sich einen Überblick über die Gründe sowie die Folgen der geplanten Entlassungen zu verschaffen, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf eine Vorlage des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entschieden hat.
Am 28.01.2020 wurde einem Arbeitnehmer, der seit 1981 bei einer deutschen GmbH beschäftigt war, mitgeteilt, dass sein Arbeitsvertrag gekündigt werde. Am 01.10.2019 war das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet und am 17.01.2020 beschlossen worden, die Geschäftstätigkeit der GmbH bis spätestens 30.04.2020 einzustellen und Massenentlassungen vorzunehmen.
Ebenfalls am 17.01.2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats in seiner Funktion als Arbeitnehmervertreter eingeleitet. Im Rahmen der Konsultation wurden dem Betriebsrat die in der Richtlinie über Massenentlassungen genannten Informationen mitgeteilt. Der zuständigen Behörde – der Agentur für Arbeit Osnabrück – wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet.
Am 22.01.2020 erklärte der Betriebsrat, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Am 23.01.2020 wurde der Entwurf der Massenentlassung der Agentur für Arbeit Osnabrück mitgeteilt. Anschließend beraumte sie Beratungstermine für die meisten der von den beabsichtigten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer an.
Im Rahmen einer Klage vor den deutschen Gerichten machte der betroffene Arbeitnehmer geltend, der zuständigen Agentur für Arbeit sei keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat vom 17.01.2020 übermittelt worden. Dies sei aber eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Entlassung.
Das in der Revisionsinstanz mit der Sache befasste BAG sieht in der unterbliebenen Übermittlung einen Verstoß gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Massenentlassungen in nationales Recht. Weder die Richtlinie noch das nationale Recht sehe jedoch eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vor. Daher hat das BAG Zweifel, ob der Verstoß zwangsläufig zur Nichtigkeit einer Kündigung führt. Der EuGH möge daher klären, ob die fragliche Vorschrift den Zweck habe, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.
Der EuGH hat dies verneint. Die frühzeitige Informationsübermittlung, zu der der Arbeitgeber verpflichtet sei, erfolge nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die zuständige Behörde gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben kann. Ihr solle damit ermöglicht werden, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen später angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen kann. In Anbetracht des Zwecks der Informationsübermittlung und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolgt, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtigt, solle sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom13.07.2023, C-134/22