12.07.2023
Coronabedingte Hartz-IV-Gesetzgebung: Wann ist Vermögen erheblich?
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hatte über die Frage zu entscheiden, wann Vermögen im Sinne der coronabedingten Hartz-IV-Gesetzgebung erheblich ist.
Zur Abmilderung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie sollte für die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach Sozialgesetzbuch II (SGB II) – dem so genannten Hartz IV, jetzt Bürgergeld – eine Leistungsgewährung vorübergehend auch ohne aufwendige Vermögensprüfung ermöglicht werden. Etwas anderes sollte nur dann gelten, wenn das Vermögen nicht "erheblich" ist. Wann Vermögen erheblich ist, gab die Regelung (§ 67 SGB II) nicht vor.
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) nimmt in ihren fachlichen Weisungen die Grenze bei einem Vermögen von mehr als 60.000 Euro für eine Einzelperson an. Hierbei stützt sie sich auf das Wohngeldrecht. Dieses sieht ebenfalls einen Anspruchsausschluss bei erheblichem Vermögen vor und benennt dazu einen Betrag von mehr als 60.000 Euro für das erste zu berücksichtigende Haushaltsmitglied. Hierdurch soll eine missbräuchliche Inanspruchnahme verhindert werden. Die fachlichen Weisungen der BA sind nur für die Jobcenter bindend, die von der BA gemeinsam mit einer Kommune getragen werden. Das sind in Baden-Württemberg 33 von 44 Jobcentern. Die weiteren Jobcenter werden nur von einer Stadt oder einem Landkreis getragen (so genannte Optionskommunen).
Vor diesem Hintergrund hatte das LSG Baden-Württemberg zu klären, ob das Vermögen des im Landkreis Ravensburg wohnhaften Klägers der Gewährung von Arbeitslosengeld II entgegenstand. Das örtliche zuständige Jobcenter einer Optionskommune verwendete von der BA erstellte Antragsformulare. Auf diesen fand sich die Erläuterung: "Erheblich ist kurzfristig für den Lebensunterhalt verwertbares Vermögen der Antragstellerin/des Antragstellers über 60.000 Euro sowie über 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft." Der Kläger verneinte darauf ein erhebliches Vermögen. Das Jobcenter lehnte den Antrag ab, da der Kläger nach den vorgelegten Unterlagen über verwertbares Vermögen von rund 54.000 Euro verfüge. Ein Vermögensfreibetrag von 60.000 Euro finde im Gesetz keine Stütze. Erhebliches Vermögen liege vielmehr dann vor, wenn im Einzelfall für jedermann offenkundig sei, dass Grundsicherungsleistungen nicht gerechtfertigt seien.
Nach dem Sozialgericht Konstanz gab nun auch das LSG dem Kläger Recht und wies die Berufung des Jobcenters gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurück. Das Vermögen des Klägers liege unter dem einschlägigen Grenzwert zur Bestimmung erheblichen Vermögens von 60.000 Euro. Dieser Grenzwert ergebe sich nicht direkt aus dem Wortlaut des SGB II. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich lediglich, dass ein "wesentlich vereinfachtes Verfahren" eingeführt werden solle, um die "insbesondere bei Erstanträgen oft sehr aufwändig[e] " Vermögensprüfung nicht durchführen zu müssen. Jedoch dränge sich wegen der Funktion und des deckungsgleichen Wortlauts die Parallele zum Wohngeldrecht auf.
Diese Auslegung des Begriffs des erheblichen Vermögens erscheine vor dem Hintergrund des Gesetzeszwecks, der Praktikabilität in Massenverfahren während der Pandemie und bei Berücksichtigung des Gleichheitsgrundsatzes vorzugswürdig gegenüber einer jeweiligen Festlegung eines individuellen Grenzwerts, so das LSG. Da im Ergebnis vollkommen offenbleibe, anhand welcher Kriterien der Grenzwert im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden solle, ergäbe sich daraus eine erhebliche Rechtsunsicherheit für Betroffene und Rechtsanwender, was dem mit der Regelung verfolgten Zweck der Verwaltungsvereinfachung entgegenstehe. Die Erklärung, dass bei einem reinen Geldvermögen die Gewährung existenzsichernder Leistungen für jedermann offenkundig nicht gerechtfertigt sei, lasse sich bei einem Barvermögen von beispielsweise 40.000 Euro mangels greifbarer Maßstäbe genauso postulieren wie bei 50.000 Euro. Dies sei auch vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes nicht erstrebenswert.
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2023, L 3 AS 3160/21