30.06.2023
Offene Videoüberwachung durch Arbeitgeber: Trotz Datenschutzes kein Verwertungsverbot
In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt laut Bundesarbeitsgericht (BAG) auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.
Der Kläger war bei der Beklagten in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm vor, am 02.06.2018 eine so genannte Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Der Kläger will an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten haben. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten aber, dass der Kläger das Gelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich, hilfsweise ordentlich.
Der Kläger hat klageweise geltend gemacht, er habe am 02.06.2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot und dürften daher im Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem BAG bis auf einen Antrag betreffend ein Zwischenzeugnis Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung der Sache ans Landesarbeitsgericht (LAG).
Dieses habe nicht nur das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zugrunde legen müssen, sondern gegebenenfalls auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen. Dies folge aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes beziehungsweise der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) entsprach.
Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre nach Ansicht des BAG eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen nach der DS-GVO nicht ausgeschlossen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung – wie hier – offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht. In einem solchen Fall sei es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat.
Das BAG konnte offenlassen, ob ausnahmsweise aus Gründen der Generalprävention ein Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverstöße in Betracht kommt, wenn die offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt. Denn das sei vorliegend nicht der Fall gewesen. Das BAG hat drei ähnlich gelagerte Verfahren auf die Revision der Beklagten ebenfalls an das LAG zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 29.06.2023, 2 AZR 296/22