27.04.2023
Tätigkeit in Yoga-Ashram: Kann Anspruch auf Mindestlohn begründen
Das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kann nur von einem Verein in Anspruch genommen werden, der ein hinreichendes Maß an religiöser Systembildung und Weltdeutung aufweist. Andernfalls sei es ihm verwehrt, so das Bundesarbeitsgericht (BAG), mit seinen Mitgliedern zu vereinbaren, außerhalb eines Arbeitsverhältnisses fremdbestimmte, weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit zu leisten, sofern diese nicht ähnlich einem Arbeitnehmer sozial geschützt sind.
Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, dessen satzungsmäßiger Zweck "die Volksbildung durch die Verbreitung des Wissens, der Lehre, der Übungen und der Techniken des Yoga und verwandter Disziplinen sowie die Förderung der Religion" ist. Zur Verwirklichung seiner Zwecke betreibt er Einrichtungen, in denen Kurse, Workshops, Seminare, Veranstaltungen und Vorträge zu Yoga und verwandten Disziplinen durchgeführt werden. Dort bestehen so genannte Sevaka-Gemeinschaften. Sevakas sind Vereinsangehörige, die in der indischen Ashram- und Klostertradition zusammenleben und ihr Leben ganz der Übung und Verbreitung der Yoga Vidya Lehre widmen. Sie sind aufgrund ihrer Vereinsmitgliedschaft verpflichtet, nach Weisung ihrer Vorgesetzten Sevazeit zu leisten. Gegenstand der Sevadienste sind zum Beispiel Tätigkeiten in Küche, Haushalt, Garten, Gebäudeunterhaltung, Werbung, Buchhaltung, Boutique et cetera sowie die Durchführung von Yogaunterricht und die Leitung von Seminaren. Als Leistung zur Daseinsfürsorge stellt der Beklagte den Sevakas Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung und zahlt ein monatliches Taschengeld von bis zu 390 Euro, bei Führungsverantwortung bis zu 180 Euro zusätzlich. Sevakas sind gesetzlich kranken-, arbeitslosen-, renten- und pflegeversichert und erhalten eine zusätzliche Altersversorgung.
Die Klägerin ist Volljuristin. Sie lebte vom 01.03.2012 bis zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft beim Beklagten am 30.06.2020 als Sevaka in dessen Yoga-Ashram und leistete dort im Rahmen ihrer Sevazeit verschiedene Arbeiten. Die Klägerin hat geltend gemacht, zwischen den Parteien habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, und verlangt ab dem 01.01.2017 auf der Grundlage der vertraglichen Regelarbeitszeit von 42 Wochenstunden gesetzlichen Mindestlohn von 46.118,54 Euro brutto.
Der Beklagte hat eingewendet, die Klägerin habe gemeinnützige Sevadienste als Mitglied einer hinduistischen Ashramgemeinschaft und nicht in einem Arbeitsverhältnis geleistet. Die Religionsfreiheit nach Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 Grundgesetz (GG) und das Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 140 GG in Verbindung mit Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung ermöglichten es, eine geistliche Lebensgemeinschaft zu schaffen, in der die Mitglieder außerhalb eines Arbeitsverhältnisses gemeinnützigen Dienst an der Gesellschaft leisteten.
Das Arbeitsgericht hat – soweit für die Revision von Bedeutung – der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht (LAG) hat die Klage auf die Berufung des Beklagten abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte vor dem BAG Erfolg. Die Klägerin sei Arbeitnehmerin des Beklagten gewesen und habe für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Sie sei vertraglich zu Sevadiensten und damit im Sinne des § 611a Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet gewesen. Der Arbeitnehmereigenschaft stünden weder die besonderen Gestaltungsrechte von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften noch die Vereinsautonomie des Artikels 9 Absatz 1 GG entgegen.
Der Beklagte sei weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft, so das BAG. Es fehle das erforderliche Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung. Der Beklagte beziehe sich in seiner Satzung unter anderem auf Weisheitslehren, Philosophien und Praktiken aus Indien und anderen östlichen und westlichen Kulturen sowie auf spirituelle Praktiken aus Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Taoismus und anderen Weltreligionen. Aufgrund dieses weit gefassten Spektrums sei ein systemisches Gesamtgefüge religiöser beziehungsweise weltanschaulicher Elemente und deren innerer Zusammenhang mit der Yoga Vidya Lehre nicht hinreichend erkennbar.
Auch die grundgesetzlich geschützte Vereinsautonomie (Artikel 9 Absatz 1 GG) erlaube die Erbringung fremdbestimmter, weisungsgebundener Arbeitsleistung in persönlicher Abhängigkeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses allenfalls dann, wenn zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden. Zu diesen zähle unter anderem eine Vergütungszusage, die den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn garantiert, auf den Kost und Logis nicht anzurechnen sind. Denn dieser bezwecke die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 GG).
Das BAG konnte eigenen Angaben zufolge auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend über die Höhe des Mindestlohnanspruchs der Klägerin entscheiden. Es habe den Rechtsstreit deshalb an das LAG zurückverwiesen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 25.04.2023, 9 AZR 253/22