13.03.2023
Gehunfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum: Maßgeblich für Recht auf Behindertenparkplatz
Für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) und damit das Recht auf Nutzung von Behindertenparkplätzen ist die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich. Kann der schwerbehinderte Mensch sich dort dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm das Merkzeichen zu (wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind). Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, sei für die Zuerkennung des Merkzeichens grundsätzlich ohne Bedeutung, so das Bundessozialgericht (BSG) in zwei Verfahren.
Der Kläger im Fall B 9 SB 1/22 R leidet unter anderem an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Zwar ist ihm das Gehen auf einem Krankenhausflur möglich. Eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten besteht aber nicht mehr.
Das BSG hat in diesem Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen. Da es nicht abschließend entscheiden konnte, ob auch die zweite Voraussetzung erfüllt ist, wonach gerade die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung von 80 entsprechen muss, hat es den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Der Kläger des Verfahrens B 9 SB 8/21 R kann infolge einer globalen Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung.
Das BSG hat hier entschieden, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zusteht. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in die Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasse gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung stehe der Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht entgegen.
Bundessozialgericht, Entscheidungen vom 09.03.2023, B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R