09.09.2024
Faires Verfahren: Rechtsbeistand für strafrechtlich verfolgte Minderjährige
Strafrechtlich verfolgte Minderjährige müssen die konkrete und effektive Möglichkeit haben, sich von einem Rechtsbeistand unterstützen zu lassen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt klar, dass eine solche Unterstützung spätestens bei der ersten polizeilichen Befragung angeboten werden muss.
Ein polnisches Gericht ist mit einem Strafverfahren gegen drei Minderjährige befasst. Sie wurden angeklagt, unbefugt in die Gebäude einer ehemaligen, nicht mehr genutzten Ferienanlage eingedrungen zu sein. In dem Verfahren wurde festgestellt, dass die Verdächtigen von der Polizei in Abwesenheit eines Rechtsbeistands befragt worden waren. Vor der ersten Befragung wurden sie – ebenso wenig wie ihre Eltern – weder über ihre Rechte noch über den Ablauf des Verfahrens informiert. Die vom Gericht von Amts wegen bestellten Verteidiger beantragen nunmehr, die früheren Aussagen dieser Verdächtigen als Beweise aus den Akten zu entfernen.
Das polnische Gericht stellt die Wirksamkeit der Verfahrensgarantien für Minderjährige im vorgerichtlichen Ermittlungsverfahren in Frage und hat sich an den EuGH gewandt. Es fragt sich insbesondere, ob die polnischen Vorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind und welche Konsequenzen es aus einer etwaigen Unvereinbarkeit zu ziehen hat.
Der Gerichtshof entscheidet, dass Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen sind, die konkrete und effektive Möglichkeit haben müssen, sich von einem – gegebenenfalls von Amts wegen bestellten – Rechtsbeistand unterstützen zu lassen. Diese Verpflichtung müsse vor der ersten Befragung durch die Polizei oder jede andere Strafverfolgungs- oder Justizbehörde und spätestens bei der Befragung bestehen. Grundsätzlich könnten diese Behörden ein Kind, das nicht tatsächlich eine solche Unterstützung erhält, nicht befragen.
Personen, die während des Strafverfahrens das 18. Lebensjahr vollendet haben, dürften nicht automatisch die Rechte verlieren, die das Unionsrecht Minderjährigen verleiht, insbesondere das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand. Die Rechte müssten fortbestehen, wenn dies angesichts aller Umstände des Einzelfalls, einschließlich des Reifegrads und der Schutzbedürftigkeit der betroffenen Personen, angemessen ist.
Der Gerichtshof betont, dass Minderjährige so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten Befragung über ihre Verfahrensrechte belehrt werden müssen. Die entsprechenden Informationen müssten in einer einfachen und verständlichen Form übermittelt werden, die ihren besonderen Bedürfnissen angepasst ist. Ein für Erwachsene bestimmtes standardisiertes Dokument entspreche diesen Anforderungen nicht.
Was belastende Beweise angeht, die aus Aussagen eines Minderjährigen im Rahmen einer unter Verletzung seiner Rechte durchgeführten Befragung gewonnen wurden, verpflichte das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht, für das nationale Gericht die Möglichkeit vorzusehen, solche Beweise für unzulässig zu erklären. Dieses Gericht muss laut EuGH jedoch in der Lage sein, die Wahrung dieser Rechte zu überprüfen und alle Konsequenzen zu ziehen, die sich aus ihrer Verletzung ergeben, insbesondere in Bezug auf den Beweiswert der fraglichen Beweise.
Jetzt sei es Sache des polnischen Gerichts, zu prüfen, ob die in Rede stehenden polnischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Es müsse ferner das polnische Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auslegen, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten. Sollte sich eine solche Auslegung als unmöglich erweisen, müsste das polnische Gericht jede entgegenstehende nationale Regelung oder Praxis aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 05.09.2024, C-603/22