26.08.2024
Aussetzungszinsen von monatlich einhalb Prozent: Verfassungswidrig?
Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hält den gesetzlichen Zinssatz von sechs Prozent p.a. für sog. Aussetzungszinsen für verfassungswidrig. Er hat daher das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen.
Einspruch und Klage haben im Steuerrecht grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, das heißt die Erhebung einer Abgabe wird nicht aufgehalten und der Steuerpflichtige muss die festgesetzte Steuer zunächst zahlen. Die aufschiebende Wirkung von Einspruch und Klage kann aber in einem summarischen Verfahren auf Antrag bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids von Finanzamt oder Finanzgericht gesondert durch die Aussetzung der Vollziehung (AdV) angeordnet werden. Für den Steuerpflichtigen bedeutet das einerseits, dass er die Steuer zunächst nicht zahlen muss. Andererseits droht ihm eine Belastung mit Zinsen, wenn sein Rechtsmittel endgültig ohne Erfolg bleibt und er die Steuer "nachträglich" zahlen muss. Er hat dann nämlich für die Dauer der AdV und in Höhe des ausgesetzten Steuerbetrags Zinsen in Höhe von einhalb Prozent pro Monat, also sechs Prozent pro Jahr, zu entrichten (Aussetzungszinsen, § 237 in Verbindung mit 238 Absatz 1 Satz 1 der Abgabenordnung – AO).
Mit Beschluss vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14) hat das BVerfG die Vollverzinsung in dieser Höhe (§ 233a in Verbindung mit § 238 Absatz 1 Satz 1 AO) ab dem 01.01.2014 für unvereinbar mit Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz (GG) erklärt, dies aber nicht auf die Aussetzungszinsen und andere Teilverzinsungstatbestände erstreckt.
Im Streitfall hatte der Kläger seinen Einkommensteuerbescheid 2012 angefochten. Dessen Vollziehung setzte das Finanzamt aus. Die Klage war erfolglos. Aussetzungszinsen von einhalb Prozent wurden für 78 Monate festgesetzt, unter anderem für den Zeitraum von 01.01.2019 bis zum 15.04.2021. Der Kläger wandte sich gegen die Zinsfestsetzung.
Nach Auffassung des BFH ist ein Zinssatz für die Zinsen bei AdV in Höhe von einhalb Prozent pro Monat, also sechs Prozent p.a. gemäß § 237 in Verbindung mit § 238 Absatz 1 Satz 1 AO im Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 mit Artikel 3 Absatz 1 GG unvereinbar. Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase sei der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen.
Zudem würden Steuerpflichtige, die Zinsen schulden, weil sie die Steuer nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Absatz 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, ungleich behandelt. Denn Nachzahlungszinsen würden seit dem 01.01.2019 lediglich mit einem Zinssatz von 0,15 Prozent für jeden Monat, also 1,8 Prozent p.a. berechnet. Auch diese Zinssatzspreizung hält der BFH verfassungsrechtlich für nicht gerechtfertigt.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 08.05.2024, VIII R 9/23