19.08.2024
Verspätete Einkommensteuererklärung: Verspätungszuschlag auch bei Steuererstattung?
Im Rahmen des Erschließungsermessens zur Festsetzung eines Verspätungszuschlags nach § 152 Absatz 1 Abgabenordnung neuer Fassung (AO n.F.) kann unter anderem von Bedeutung sein, ob sich aus der Veranlagung eine Nullfestsetzung, Nachzahlung oder Steuererstattung ergibt. Dies hat das Finanzgericht (FG) Münster entschieden.
Die am 29.03.2023 durch die Steuerberaterin des Klägers eingereichte Einkommensteuererklärung 2020 führte aufgrund der Anrechnung der vom Arbeitgeber abgeführten Lohnsteuer zu einer Einkommensteuererstattung. Im Rahmen des Veranlagungsverfahrens setzte das Finanzamt einen Verspätungszuschlag von 175 Euro fest, da die Steuererklärung erst nach Ablauf der Abgabefrist (31.08.2022) abgegeben worden sei. Mit seinem Einspruch machte der Kläger geltend, dass er seine Steuererklärung erstmalig und letztmalig geringfügig verspätet abgegeben und die Veranlagung zu einer Erstattung geführt habe.
Das Finanzamt wies den Einspruch als unbegründet zurück. Nach § 152 Absatz 1 AO könne ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden. Von der Festsetzung sei abzusehen, wenn die Verspätung entschuldbar sei. Vorliegend sei die verspätete Abgabe – wie in einer früheren Einspruchsentscheidung zur Ablehnung eines vom Kläger ebenfalls gestellten Antrags auf rückwirkende Fristverlängerung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung 2020 dargestellt – nicht entschuldbar gewesen. Entsprechend den Vorgaben des § 152 Absatz 5 AO sei daher ein Mindestverspätungszuschlag von 25 Euro für sieben angefangene Monate der Verspätung (= 175 Euro) festgesetzt worden. Im Rahmen des Klageverfahrens führte das Finanzamt ergänzend aus, dass es nach § 152 Absatz 1 AO n.F. nur auf die verspätete Abgabe und das Verschulden für die Verspätung ankomme. Andere Ermessenskriterien seien in die Neufassung des Gesetzes nicht aufgenommen worden.
Das FG hat der Klage stattgegeben und den Bescheid über die Festsetzung eines Verspätungszuschlags aufgehoben. Das Finanzamt habe sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt.
Die Festsetzung eines Verspätungszuschlags habe sich nach der Ermessensvorschrift des § 152 Absatz 1 AO gerichtet. Es habe kein Fall einer gebundenen Entscheidung nach § 152 Absatz 2 AO vorgelegen, da die Einkommensteuerfestsetzung zu einer Erstattung geführt habe (§ 152 Absatz 3 Nr. 3 AO). Auch seien die Tatbestandsvoraussetzungen des § 152 Absatz 1 Satz 1 AO aufgrund der nicht fristgemäßen Abgabe der Einkommensteuererklärung erfüllt gewesen, während die Festsetzung nicht nach § 152 Absatz 1 Satz 2 AO ausgeschlossen gewesen sei. Der Kläger habe nicht glaubhaft gemacht, dass die Verspätung entschuldbar gewesen sei.
Auf Rechtsfolgenseite regele § 152 Absatz 1 AO nicht, welche Kriterien bei der Ausübung des Entschließungsermessens zu berücksichtigen seien. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich lediglich, dass eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung nach § 5 AO zu treffen sei. Es sei daher umstritten, ob und gegebenenfalls welche weiteren Ermessenskriterien seitens der Finanzverwaltung zu berücksichtigen seien.
Nach Auffassung FG Münster ergeben sich die maßgeblichen Ermessenskriterien aus dem allgemeinen Grundsatz, wonach das Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise auszuüben sei. Der Verspätungszuschlag diene der Sicherstellung der rechtzeitigen Steuerfestsetzung und Steuerentrichtung durch rechtzeitigen Eingang der Steuererklärung als auch dem Ausgleich der aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile des Steuerpflichtigen. Folglich müsse die Behörde im Rahmen der Festsetzung eines Verspätungszuschlags berücksichtigten, welche Folgen sich aus der verspäteten Abgabe für das Veranlagungsverfahren und den Steuerpflichtigen ergeben würden. Insbesondere könne von Bedeutung sein, ob die verspätete Abgabe zu einer Verzögerung des Veranlagungsverfahrens geführt und ob sich aus der Veranlagung eine Nullfestsetzung, Nachzahlung oder Erstattung ergeben habe.
Da der Gesetzgeber in § 152 Absatz 3 Nr. 2 und 3 AO für Nullfestsetzungen und Erstattungsfälle eine gebundene Festsetzung ausschließe, sei davon auszugehen, dass es sich beim Vorliegen einer Nullfestsetzung oder eines Erstattungsfalls um ermessensrelevante Kriterien handele und dass in derartigen Fällen – wie nach altem Recht – ein Verspätungszuschlag grundsätzlich nur bei erheblicher Fristüberschreitung oder schwerwiegendem Verschulden gerechtfertigt sei. Für die besondere Bedeutung einer Nullfestsetzung oder eines Erstattungsfalls als Ermessenskriterium spreche zudem, dass § 152 Absatz 5 Satz 2 AO die Festsetzung eines Mindestverspätungszuschlags vorsehe, wodurch das Vorliegen eines Erstattungsfalls bei der Bemessung des Verspätungszuschlags unberücksichtigt bleiben würde. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit seien jedoch die wirtschaftlichen Folgen im Rahmen des Erschließungsermessens zu berücksichtigen. Auch § 152 Absatz 8 Satz 2 AO sei zu entnehmen, dass der "Höhe der Steuer" Bedeutung zukomme.
Andererseits sei die Schwere des Pflichtverstoßes des Steuerpflichtigen und dabei insbesondere die Dauer und Häufigkeit der Fristüberschreitung ebenfalls mit einzubeziehen. Eine ermessensfehlerfreie Festsetzung setze daher grundsätzlich voraus, dass die Finanzbehörde alle maßgeblichen Kriterien beachte und gegeneinander abwäge. Demgegenüber könne der Auffassung des Finanzamtes, dass einzig auf das Verschulden des Steuerpflichtigen abzustellen sei, nicht gefolgt werden. Dieser Auslegung stehe auch nicht entgegen, dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 152 AO das Festsetzungsverfahren habe vereinfachen wollen. Denn der Vereinfachungszweck werde durch die Regelungen zur gebundenen Festsetzung in § 152 Absatz 2 AO sowie zur ermessensunabhängigen Berechnung der Höhe des Verspätungszuschlags nach § 152 Absatz 5 AO weiterhin erreicht.
Den vorgenannten Grundsätzen habe die Ermessensentscheidung des Finanzamtes nicht entsprochen, da dieses allein auf die verspätete Abgabe und das Verschulden des Klägers abgestellt habe. Eine Heilung sei nicht in Betracht gekommen, da das Finanzamt erstmals im Klageverfahren Ausführungen zu den anderen Ermessenserwägungen angestellt habe.
Das FG hat die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.
Finanzgericht Münster, Urteil vom 14.06.2024, 4 K 2351/23