24.04.2024
BGH bestätigt: Amazon hat überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb
Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat die Feststellung des Bundeskartellamts (BKartA) bestätigt, dass Amazon eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb hat. Erstmals hat der Kartellsenat damit in erster und letzter Instanz über eine Beschwerde gegen eine Feststellung nach § 19a Absatz 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) entschieden.
Die am 19.01.2021 in Kraft getretene Regelung des § 19a GWB dient der Modernisierung und Stärkung der wettbewerbsrechtlichen Missbrauchsaufsicht. Sie sieht ein zweistufiges Verfahren vor. Danach kann das BKArtA in einem ersten Schritt die überragende marktübergreifende Bedeutung des Unternehmens für den Wettbewerb feststellen und dem betroffenen Unternehmen in einem zweiten Schritt bestimmte Verhaltensweisen untersagen.
Amazon ist weltweit unter anderem im Bereich des E-Commerce, als stationärer Einzelhändler und als Anbieter cloudbasierter IT-Dienstleistungen tätig. Der Konzern war zum 27.12.2021 mit einer Marktkapitalisierung von 1,721 Billionen US-Dollar das fünftwertvollste Unternehmen der Welt, wobei der Börsenwert innerhalb der vorangegangenen sieben Jahre um etwa 443 Prozent gestiegen war. Das Unternehmen erzielte 2021 weltweit Umsätze von rund 469,8 Milliarden US-Dollar. Auf Deutschland entfielen davon rund 37,3 Milliarden US-Dollar. Damit stellte Deutschland auf den Umsatz bezogen nach den USA den zweitwichtigsten (Absatz-)Markt für Amazon dar. Die jährlichen Gewinne stiegen von (weltweit) drei Milliarden US-Dollar im Geschäftsjahr 2017 auf 33,4 Milliarden US-Dollar in 2021, mithin um 1.013 Prozent. Amazon gehört mit 1,6 Millionen Mitarbeitern zum 31.12.2021 zu den größten Arbeitgebern weltweit.
Das BKartA hat am 05.07.2022 nach § 19a Absatz 1 GWB festgestellt, dass Amazon.com, Inc. einschließlich der mit ihr verbundenen Unternehmen eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt. Die Feststellung ist auf fünf Jahre nach Eintritt der Bestandskraft befristet. Gegen diesen Beschluss haben Amazon.com, Inc. und eine deutsche Konzerngesellschaft Beschwerde mit dem Antrag eingelegt, den Beschluss aufzuheben. Während des Beschwerdeverfahrens wurde Amazon von der EU-Kommission als Torwächter gemäß Artikel 3 Digital Markets Act (DMA) benannt. Für die von Amazon betriebenen Vermittlungsplattformen Amazon Marketplace und Amazon Advertising gelten in der EU seit dem 07.03.2024 die das Marktverhalten regelnden Vorschriften des DMA.
Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Der BGH ist für die Beschwerde gemäß § 73 Absatz 5 Nr. 1 GWB in erster und letzter Instanz zuständig. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen insoweit nicht. § 19a Absatz 1 GWB und der aufgrund dieser Vorschrift erlassenen Feststellungsverfügung stehen laut BGH auch keine unionsrechtlichen Gründe entgegen. § 19a Absatz 1 GWB sei eine Vorschrift des nationalen Wettbewerbsrechts, deren Anwendung neben dem DMA zulässig ist. Da sich die Feststellungsverfügung nicht auf einen bestimmten Dienst der Informationsgesellschaft bezieht, verstoße sie auch nicht gegen das sich aus der E-Commerce-Richtlinie ergebende Verbot der Einschränkung des freien Verkehrs von Diensten der Informationsgesellschaft aus einem anderen Mitgliedstaat. § 19a Absatz 1 GWB habe ferner bei der EU-Kommission nicht nach der Richtlinie (EU) 2015/1535 notifiziert werden müssen, weil es sich nicht um eine allgemein gehaltene Vorschrift betreffend Dienste der Informationsgesellschaft im Sinn dieser Richtlinie handelt. Danach habe kein Anlass bestanden, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof zu richten, so der BGH.
Das BKartA habe gemäß § 19a Absatz 1 GWB zu Recht festgestellt, dass Amazon in erheblichem Umfang auf mehrseitigen Märkten gemäß § 18 Absatz 3a GWB tätig ist und dem Konzern eine überragende marktübergreifende Bedeutung für den Wettbewerb zukommt.
Amazon unterhalte weltweit 21 länderspezifische Domains mit Handelsplattformen (Amazon Store) und vertreibe darüber als Hersteller und Einzelhändler physische und digitale Waren an Endkunden (etwa Amazon Retail, Home Entertainment, Prime Video, Kindle Content, Amazon Music, Amazon Games, Amazon Alexa, Amazon Fire, Fire TV, SmartHome-Geräte). Gleichzeitig betreibe Amazon die Handelsplattformen als Online-Marktplätze und ermögliche es dritten Online-Händlern gegen Provisionszahlung, ihre Waren Endkunden anzubieten. Amazon habe eine eigene Logistikinfrastruktur und vermittele – auch in Deutschland – Versandaufträge zwischen dritten Online-Händlern und Versanddienstleistern. Amazon Advertising bringe Werbekunden und Anbieter von Werbeflächen zusammen.
Die Feststellung der überragenden marktübergreifenden Bedeutung für den Wettbewerb setze keine konkrete Wettbewerbsgefahr oder -beeinträchtigung voraus. Vielmehr reiche dafür das Vorliegen der strategischen und wettbewerblichen Möglichkeiten aus, deren abstraktes Gefährdungspotential durch die Vorschrift adressiert wird. § 19a Absatz 1 GWB soll dem BKartA laut BGH eine effektivere Kontrolle derjenigen großen Digitalunternehmen ermöglichen, deren Ressourcen und strategische Positionierung ihnen erlauben, erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit Dritter zu nehmen, den Wettbewerbsprozess zum eigenen Vorteil zu verfälschen sowie ihre bestehende Marktmacht auf immer neue Märkte und Sektoren zu übertragen.
Das Amt habe zutreffend festgestellt, dass Amazon über solche strategischen und wettbewerblichen Potentiale verfügt. Der Konzern sei auf vielen verschiedenen, vertikal integrierten und in vielfältiger und konglomerater Weise miteinander verbundenen Märkten tätig und habe eine marktbeherrschende Stellung auf dem deutschen Markt für Online-Marktplatzdienstleistungen für gewerbliche Händler. Er verfüge über eine überragende Finanzkraft und einen überragenden Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten wie etwa Kunden- und Nutzerdaten, Daten aus dem Betrieb der Handelsplattformen und Werbeplattformen und damit verbundenen Diensten sowie aus dem Betrieb von AWS. Amazon habe als Betreiber zahlreicher nationaler Online-Marktplätze weltweit und in Deutschland eine Schlüsselposition für den Zugang von Einzelhändlern zu ihren Absatzmärkten und könne erheblichen Einfluss auf die Vertriebstätigkeit von Dritthändlern ausüben. Die nunmehrige Geltung der Regelungen des DMA und die während des Beschwerdeverfahrens gegenüber der EU-Kommission im Rahmen eines Missbrauchsverfahrens abgegebenen Zusagen von Amazon stünden der Feststellung nicht entgegen, so der BGH abschließend.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 23.04.2024, KVB 56/22 – Amazon