16.04.2024
Werkstattrisiko: Grundsätze auf Sachverständigen zu übertragen
Überhöhte Kostenansätze eines Unfall-Sachverständigen sind für den Geschädigten nicht immer leicht zu erkennen. Deswegen hat der Bundesgerichtshof (BGH) jetzt entschieden, dass die fortentwickelten Grundsätze zum Werkstattrisiko auf überhöhte Kostenansätze eines Sachverständigen, den der Geschädigte mit der Begutachtung seines Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens beauftragt hat, zu übertragen sind.
Bei einem Verkehrsunfall wurde ein Pkw beschädigt. Der Haftpflichtversicherer des Unfallgegners haftet für den Schaden voll. Der Halter des beschädigten Pkw beauftragte ein Sachverständigenbüro mit der Begutachtung des Kfz und trat gleichzeitig seine diesbezüglichen Schadensersatzansprüche gegen die Versicherung an die Sachverständige ab. Die Versicherung erstattete die Kosten für das Gutachten, nahm aber eine in Rechnung gestellten Position "Zuschlag Schutzmaßnahme Corona" in Höhe von 20 Euro aus. Die Gutachterin hatte diese Rechnungsposition damit begründet, dass sie Desinfektionsmittel, Einwegreinigungstücher und Einmalhandschuhe habe anschaffen müssen. Mit der Klage hat sie die Verurteilung der Versicherung zur Zahlung von 20 Euro nebst Zinsen verlangt.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es war der Auffassung, dass eine "Corona-Pauschale" von dem Sachverständigen nicht gesondert in Rechnung gestellt werden dürfe. Die Revision der Sachverständigen hatte Erfolg. Der BGH hat das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Dem Geschädigten habe dem Grunde nach ein Anspruch gegen die Versicherung auf Ersatz der Kosten des eingeholten Sachverständigengutachtens zugestanden; denn er sei grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen. Dieser Anspruch ist durch die Abtretung auf das klagende Sachverständigenbüro übergegangen.
Auf gegebenenfalls überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen seien die Grundsätze zum Werkstattrisiko, die der BGH in seinem Urteil vom 16.01.2024 (VI ZR 253/22) für überhöhte Kostenansätze einer Werkstatt für die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs fortentwickelt hat, übertragbar, so der BGH weiter. Denn den Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten des Geschädigten seien nicht nur in dem werkvertraglichen Verhältnis mit einer Reparaturwerkstatt, sondern auch in dem werkvertraglichen Verhältnis mit einem Kfz-Sachverständigen Grenzen gesetzt, vor allem, sobald er den Gutachtensauftrag erteilt und das Fahrzeug in die Hände des Gutachters gegeben hat.
Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger seien demnach auch diejenigen Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise unangemessen seien. Bei einem Kfz-Sachverständigen, der sein Grundhonorar nicht nach Stunden, sondern nach Schadenshöhe berechnet, komme ein für den Geschädigten nicht erkennbar überhöhter Ansatz beispielsweise auch dann in Betracht, wenn der Gutachter den Schaden unzutreffend zu hoch einschätzt. Diesbezügliche Mehraufwendungen seien dann ebenfalls ersatzfähig, ebenso Rechnungspositionen, die sich auf – für den Geschädigten nicht erkennbar – tatsächlich nicht durchgeführte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begutachtung beziehen. Allerdings könne der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Abtretung gegebenenfalls bestehender Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen.
Die Anwendung der genannten Grundsätze zum Werkstattrisiko auf die Sachverständigenkosten setze nicht voraus, dass der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen bereits bezahlt hat. Soweit der Geschädigte die Rechnung nicht beglichen hat, könne er – will er das Werkstattrisiko beziehungsweise das Sachverständigenrisiko nicht selbst tragen – die Zahlung der Sachverständigenkosten allerdings nicht an sich, sondern nur an den Sachverständigen verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (dieses Risiko betreffender) Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen. Laut BGH gelten auch insoweit dieselben Grundsätze wie für die Instandsetzung des beschädigten Fahrzeugs.
Hat sich der Sachverständige die Schadensersatzforderung des Geschädigten in Höhe der Honorarforderung abtreten lassen, könne er sich als Zessionar allerdings nicht auf das Sachverständigenrisiko berufen. Die diesbezüglich im Urteil vom 16.01.2024 entwickelten Grundsätze gölten entsprechend für den Sachverständigen.
Da im vorliegenden Fall die Sachverständige aus abgetretenem Recht des Geschädigten vorgeht, könne sie sich auf das Sachverständigenrisiko nicht berufen. Sie habe vielmehr darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, dass die mit der Pauschale abgerechneten Corona-Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und objektiv erforderlich waren und dass die Pauschale auch ihrer Höhe nach nicht über das Erforderliche hinausgeht.
Bei der Beurteilung, ob die durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen objektiv erforderlich waren, sei zu berücksichtigen, dass einem Sachverständigen als Unternehmer gewisse Entscheidungsspielräume hinsichtlich seines individuellen Hygienekonzepts während der Corona-Pandemie zuzugestehen sind. Dabei gehe es nicht nur um den Schutz des Sachverständigen und seiner Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus, sondern auch um den Schutz, den der Auftraggeber der jeweiligen Begutachtung während der Pandemie im Hinblick auf Maßnahmen, die in seinem Fahrzeug durchgeführt werden, üblicherweise beziehungsweise aufgrund der Gepflogenheiten während der Pandemie erwarten darf; diesen Erwartungen zu entsprechen ist ein berechtigtes Anliegen des Sachverständigen.
Es begegne auch keinen grundsätzlichen Bedenken, dass die Sachverständige die Corona-Pauschale gesondert berechnet hat. Einem Kfz-Sachverständigen stehe es frei, neben einem Grundhonorar für seine eigentliche Sachverständigentätigkeit Nebenkosten, auch in Form von Pauschalen, für tatsächlich angefallene Aufwendungen abzurechnen. Die betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob die für das Hygienekonzept in der Corona-Pandemie anfallenden Kosten gesondert ausgewiesen oder als interne Kosten in die Kalkulation des Grundhonorars "eingepreist" werden, stehe dabei grundsätzlich dem Sachverständigen als Unternehmer zu; es dürfe nur nicht beides kumulativ erfolgen.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 12.03.2024, VI ZR 280/22