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20.03.2023

Gebärdendolmetscher für gehörlose Schülerin: Auch in Schule für Menschen mit Hörbehinderung Aufgabe der Eingliederungshilfe

Die Assistenz durch einen Gebärdendolmetscher für ein gehörloses Kind kann auch in einer Schule für gehörlose und höreingeschränkte Schüler Aufgabe der Eingliederungshilfe und nicht der Schule sein. Dies geht aus einem Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg hervor.

Assistenz für Schüler mit Behinderung beim Besuch einer Schule ist Aufgabe der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch IX, für die in Baden-Württemberg die Stadt- und Landkreise als örtliche Träger der Jugend- beziehungsweise Sozialhilfe zuständig sind. Dies gilt jedoch nicht für den "pädagogischen Kernbereich" des Unterrichts, also die Vermittlung der nach dem jeweiligen Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg vorgegebenen Lehrstoffs. Für diesen Bereich sind die Schulen beziehungsweise das Land selbst verantwortlich.

Vor diesem Hintergrund hat das LSG in einem Eilverfahren den Landkreis Reutlingen verpflichtet, einer gehörlosen 13-jährigen Schülerin vorläufig 16 Stunden Assistenz durch einen Gebärdendolmetscher wöchentlich (zu einem voraussichtlichen Stundensatz von 85 Euro) zu gewähren.

Die antragstellende Schülerin wohnt im Landkreis Reutlingen. Sie besucht ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt Hören. Sie kommuniziert in der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Allerdings sind nicht alle Lehrkräfte in ihrer Schule gleichermaßen gebärdenkompetent, sodass sie oft nicht verstanden wird. Hinzu kommt, dass die Lehrkräfte ihre eigenen lautsprachlichen Äußerungen und gegebenenfalls auch lautsprachliche Äußerungen der Mitschüler in DGS übersetzen müssen, damit die Antragstellerin sie versteht. Eine solche Doppelrolle als Gesprächsführer und Dolmetscher verzögert den Unterrichtsverlauf, sodass lautsprachliche Äußerungen für die Antragstellerin nur zusammengefasst wiedergegeben werden. Dies erschwert ihre Teilnahme am Unterricht.

Das LSG hat seine Entscheidung damit begründet, auf jeden Fall sei die Übertragung lautsprachlicher Äußerungen, insbesondere anderer Schüler, durch einen Gebärdendolmetscher eine Aufgabe der Eingliederungshilfe. Das Dolmetschen gehöre nicht zum pädagogischen Kernbereich der Wissensvermittlung, sondern sichere die eigentliche Arbeit der Lehrkraft nur ab. Dass die Antragstellerin durch das Dolmetschen auch ihre Kenntnisse in der DGS verbessere, sei nur ein Nebeneffekt. Es könne letztlich auch nicht verlangt werden, dass andere Schüler für die Antragstellerin dolmetschten.

Ferner weist das LSG darauf hin, dass die Vermittlung der DGS an gehörlose Schüler zwar eine Leistung der Schule sei, die aber zurzeit nicht ausreichend erbracht werde. Daher sei auch für diese Aufgabe, allerdings nur nachrangig, die Eingliederungshilfe zuständig. Insoweit, so das LSG, ständen dem Landkreis wegen der Kosten des Gebärdendolmetschers möglicherweise Regressansprüche zu.

Eine endgültige Entscheidung, ob der Landkreis Reutlingen als Träger der Eingliederungshilfe die Kosten des Gebärdendolmetschers tragen muss, werde erst in einem Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht Reutlingen ergehen.

Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 01.03.2023, L 2 SO 204/23 ER-B