02.02.2024
Tonnagebesteuerung: BVerfG soll Verfassungsmäßigkeit rückwirkender Besteuerung klären
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage vorgelegt, ob § 52 Absatz 10 Satz 4 Einkommensteuergesetz (EStG) gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot (Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz – GG) verstößt, soweit diese Vorschrift die rückwirkende Anwendung des § 5a Absatz 4 Satz 5 und 6 EStG für Wirtschaftsjahre anordnet, die nach dem 31.12.1998 beginnen.
Streitig ist ein Fall der so genannten Besteuerung nach der Tonnage. Dabei handelt es sich um eine besondere Art der Gewinnermittlung, die nur für den Betrieb von Handelsschiffen im internationalen Verkehr vorgesehen ist. Die Folgen des Übergangs von der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich zur Gewinnermittlung nach der Tonnage sind insbesondere in § 5a Absatz 4 EStG geregelt. Mit dieser Regelung hat sich der Gesetzgeber beim Übergang zur Gewinnermittlung nach der Tonnage gegen eine sofortige Besteuerung der stillen Reserven und für deren aufgeschobene Besteuerung entschieden. Hierfür werden die bis zum Wechsel der Gewinnermittlungsart entstandenen stillen Reserven in einem so genannten Unterschiedsbetrag gesellschafterbezogen festgestellt und später – bei Vorliegen eines so genannten Hinzurechnungstatbestands wie zum Beispiel dem Ausscheiden des Gesellschafters oder der Veräußerung des Seeschiffs – der Besteuerung unterworfen.
Im Streitfall hatte die Klägerin ihren Kommanditanteil an einer Schifffahrtsgesellschaft, die den Gewinn nach der Tonnage ermittelte, von ihren Eltern geschenkt bekommen, die damit aus der Gesellschaft ausschieden. Der festgestellte Unterschiedsbetrag wurde jedoch, der damals geltenden Verwaltungsmeinung entsprechend, nicht anlässlich des Ausscheidens der Eltern gewinnerhöhend bei diesen erfasst, sondern seither bei der Klägerin fortgeführt. Im Jahr 2013 (Streitjahr) veräußerte die Schifffahrtsgesellschaft ihr Seeschiff.
Das Finanzamt meinte, dass infolge dieses Vorgangs der Unterschiedsbetrag bei der Klägerin gewinnerhöhend aufzulösen sei. Denn der Gesetzgeber habe § 5a Absatz 4 EStG durch das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz vom 02.06.2021 mit rückwirkender Geltung unter anderem dahin ergänzt, dass der Unterschiedsbetrag im Fall der unentgeltlichen Übertragung des Mitunternehmeranteils auf den Rechtsnachfolger übergehe. Damit sei der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des BFH, nach welcher der Unterschiedsbetrag bereits bei den Eltern im Jahr ihres Ausscheidens aus der Schifffahrtsgesellschaft gewinnerhöhend hätte aufgelöst werden müssen, der Boden entzogen und die bisherige langjährige Verwaltungspraxis gesetzlich verankert worden.
Während das Finanzgericht die Klage abgewiesen und die gesetzlich angeordnete Rückwirkung der Neuregelung als verfassungsgemäß beurteilt hatte, legte der BFH diese Frage dem BVerfG zur Entscheidung vor. Nach seiner Ansicht verstößt die Neuregelung gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot. Es liege eine echte Rückwirkung vor, die verfassungsrechtlich durch keine der bislang vom BVerfG anerkannten Fallgruppen gerechtfertigt sei. Insbesondere habe der Gesetzgeber nicht zulässigerweise eine Rechtslage rückwirkend festgeschrieben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten Rechtsprechung und einheitlichen Rechtspraxis entsprochen habe.
Zwar habe es über einen langen Zeitraum eine einheitliche Verwaltungspraxis gegeben, die bei unentgeltlichen Übertragungen inhaltlich der jetzt rückwirkend in Kraft gesetzten Neuregelung entspreche. Diese Auffassung der Finanzverwaltung sei aber zu keinem Zeitpunkt von der Rechtsprechung geteilt worden.
Unerheblich sei, ob die Klägerin aufgrund der veröffentlichten Verwaltungsmeinung (gegebenenfalls) nicht darauf habe vertrauen können, die Unterschiedsbeträge nicht versteuern zu müssen. Denn verfassungsrechtlich sei das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Verlässlichkeit der durch den Gesetzgeber geschaffenen und in die durch die Gerichte für richtig erkannte Rechtslage schutzwürdig, nicht aber ein Vertrauen in die veröffentlichte Verwaltungsauffassung. Wollte man dies anders sehen, könnte die Finanzverwaltung die Gesetzesauslegung stark vorprägen und die nach der Verfassung allein den Gerichten anvertraute rechtsprechende Gewalt inhaltlich nachhaltig beschneiden. Denn der Gesetzgeber könnte in derartigen Fällen eine ihm nicht genehme Auslegung eines Gesetzes durch die Rechtsprechung auch mit echter Rückwirkung im Sinne der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung ändern.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 19.10.2023, IV R 13/22