01.09.2023
Fahreignungs-Bewertungssystem: Zur Verwertbarkeit von Alteintragungen für eine Fahrerlaubnisentziehung
Nach der Übergangsbestimmung in § 65 Absatz 3 Nr. 2 S. 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) ist § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltenden Fassung nur hinsichtlich der Tilgung und Löschung von bis zum 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen (Alteintragungen) anwendbar, nicht aber für die Verwertung dieser Eintragungen bei der Berechnung des Punktestands. Die Verwertbarkeit richtet sich nach § 29 Absatz 7 S. 1 StVG in der ab dem 01.05.2014 geltenden Fassung. Dementsprechend besteht ein Verwertungsverbot nicht mehr bereits ab Tilgung beziehungsweise Tilgungsreife der Eintragungen, sondern erst, wenn zusätzlich die Überliegefrist von einem Jahr abgelaufen ist. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden.
Der Beklagte entzog dem Kläger, der seit dem Jahr 2000 eine Reihe von Verkehrsverstößen begangen hatte, Ende Juli 2015 die Fahrerlaubnis. Unter Berücksichtigung von bis zum 30.04.2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Alteintragungen sowie der weiteren Eintragungen im Fahreignungsregister seit 01.05.2014 ergäben sich beim Kläger acht Punkte. Deshalb lägen die Voraussetzungen für eine Fahrerlaubnisentziehung vor.
Nachdem die Klage zunächst erfolglos geblieben war, hat das BVerwG die vorinstanzlichen Entscheidungen geändert und die Fahrerlaubnisentziehung aufgehoben. Zwar verweise § 65 Absatz 3 Nr. 2 S. 1 StVG zur Überführung der Bestimmungen über das Verkehrszentralregister in das ab dem 01.05.2014 geltende Fahreignungs-Bewertungssystem nur für die Tilgung und Löschung der Alteintragungen auf § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30.04.2014 geltenden Fassung, nicht auch hinsichtlich der Verwertung dieser Eintragungen. Das ergebe sich insbesondere aus dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Norm. Dagegen sei dem zum 01.05.2014 in Kraft getretenen § 29 Absatz 7 Satz 1 StVG zu entnehmen, inwieweit diese Alteintragungen verwertbar sind, also bei der Berechnung des Punktestandes berücksichtigt werden dürfen.
Die durch die Neuregelung bewirkte Verlängerung der Verwertbarkeit der Eintragungen um die einjährige Überliegefrist habe hier nur eine unechte Rückwirkung zur Folge, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, so das BVerwG. Doch beruhe das Berufungsurteil auf einem Bundesrechtsverstoß, weil das Oberverwaltungsgericht bei Anwendung des § 29 Absatz 7 Satz 1 StVG auf die zum Kläger im Verkehrszentralregister gespeicherten Alteintragungen nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung, hier also des Widerspruchbescheids vom 23.02.2016, sondern auf den Erlass des Ausgangsbescheids vom 29.07.2015 abgestellt habe.
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer auf § 4 Absatz 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützten Fahrerlaubnisentziehung sei aber nach ständiger Rechtsprechung der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Bei Erlass des Widerspruchsbescheids sei in Bezug auf die Alteintragungen bereits Löschungsreife und damit das absolute Verwertungsverbot des § 29 Absatz 7 S. 1 StVG eingetreten gewesen. Die seit 01.05.2014 im Fahreignungsregister gespeicherten Entscheidungen (Neueintragungen) hatten laut BVerwG zu keiner weiteren Tilgungshemmung geführt. Deshalb hätten die sich aus den Alteintragungen ergebenden Punkte bei der Berechnung des Punktestands nicht mehr berücksichtigt werden dürfen. Der Kläger habe daher zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt nicht mehr die für eine Fahrerlaubnisentziehung erforderlichen acht Punkte erreicht.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 30.08.2023, BVerwG 3 C 15.22